25.04.2025

Taiwan Today

Frühere Ausgaben

Glauben im Wandel

01.11.1988
Gesellschaftliche Umwandlungen bedeuten konstante Herausforderungen sowohl für die Form als auch für den Inhalt religiösen Glaubens. Hier soll gezeigt werden, wie ökonomische und soziale Entwicklungen der letzten Zeit das religiöse Denken und Handeln in der Republik China beeinflußt haben.

Als Ausgangspunkt für die Untersuchung bieten sich verschiedene Tendenzen in Bezug auf die Zahl der Tempel und der Kirchen in Talwan an. Während die Zahl der Tempel, seien es buddhistische, taoistische oder solche der chinesischen Volksreligion zwischen 1956 und 1980 um nahezu 113% anstieg, hat sich diese Zahl pro 10 000 Einwohner seit dem Ende der sechziger Jahre kaum verändert. Sie war sogar während einer fünfjährigen Periode gesunken, bis sie nach 1973 merklich anstieg.

Der Trend der christlichen Kirchen sieht deutlich anders aus. Vor 1965 war eine klare Neigung zu schnellem Wachstum sowohl in der absoluten Zahl als auch in der Dichte zu verzeichnen. Dieses Wachstum war jedoch von 1965 bis 1980 kaum merkbar.

Die Mehrheit der Bevölkerung der Republik China glaubt an die chinesische Volksreligion, die ihre Theologie, ihr Ritual und ihr Personal eng in säkulare Institutionen integriert. Als eine Pioniergesellschaft während der letzten zwei Jahrzehnte, in der sehr harte, umweltbedingte Herausforderungen zu bestehen waren, hatten die Menschen in der Republik China ein starkes religiöses Bedürfnis. Fast alle chinesischen Einwanderer auf der Insel waren während dieser Zeitspanne Anhänger der Volksreligion. Sie brachten nicht nur zahlreiche Götterbilder sondern auch die Organisation und das Ritual der chinesischen Volksreligion nach Taiwan. Bedingt durch die außergewöhnliche Situation einer Immigrantengesellschaft wurden jedoch die Traditionen der chinesischen Religion revidiert, um sich anzupassen und das Überleben zu erleichtern. So sind neue Götter und Riten entstanden, die dem Bedürfnis nach Sicherheit und Überleben besser entsprachen.

Die Volksreligion ist bis heute in Taiwan am beliebtesten. Nach einer unlängst inselweit durchgeführten sozialen Untersuchung sind 65 % der erwachsenen Bürger auf Taiwan Anhänger der chinesischen Volksreligion. Nicht nur die Zahl ihrer Tempel, sondern auch deren Dichte pro 10 000 Einwohner sind in den letzten vierzig Jahren bedeutend angewachsen. Dies ist so trotz der Fortschritte der modernen Wissenschaft und Technologie und der Industrialisierung und Modernisierung, welche Änderungen in Form und Substanz der Religion verursachten.

Leute, die aus verschiedenen Provinzen Südchinas stammen und unterschiedliche Berufe ausüben, huldigen verschiedenen Göttern. So verehren Einwanderer aus Changchow in der Provinz Fukien Kai Chang Sheng. Und die Zimmerleute huldigen Lu Pan, dem berühmten Holzschnitzer des alten Chinas. Seit jedoch mit Beginn der fünfziger Jahre immense Wandlungen eintraten, gibt es immer weniger Leute, die Götter mit Spezialgebieten anbeten und die Zahl ihrer Tempel geht zurück.

Buddha und Kuan-Yin sowie Kuan-Kung und Matzu werden immer mehr verehrt. Weil man ihnen Universalität zuschreibt, sind sie in den letzten Jahren die beliebtesten Gütter geworden.

Die Implikationen dieser gegenteiligen Tendenzen sind von Bedeutung. Als Folge ungeheurer Verschiebungen und rascher sozialer Änderungen lösen sich manche Religionsgemeinschaften auf und Götter mit lokalgebundener Anhängerschaft werden kaum mehr verehrt. Weiterhin haben technologische Entwicklungen großen Einfluß auf traditionelle Berufe ausgeübt, wodurch die klassischen Funktionen mancher Götter geschwächt oder ganz aufgehoben wurden. Endlich wurde eine nationale Gesellschaft mit einem zentralisierten politischen System geformt, was eventuell die zunehmende Popularität der Götter mit Universalität erklärt.

Ein Vergleich der Untersuchungen des Professors Wolfgang Grichting im Jahr 1970 mit meinen eigenen von 1984 zeigt einen Wandel im Charakter der Gläubigen, den die folgende Tabelle veranschaulicht.

Während der Prozentsatz der wahren Gläubigen von 13,4 % auf 17,6 % anstieg, sank der der unterstützenden Gläubigen drastisch von 44,3 % auf 32,8 %. Zur gleichen Zeit stieg die Zahl der Sympathisanten von 38,3 % auf 48,7% .

Diese Änderung der Glaubensfestigkeit der Angehörigen der Volksreligion scheint mit dem Prozeß der Säkularisierung der Gesellschaft in Taiwan gekoppelt zu sein. Manche unterstützende Gläubige haben aus irdischen Interessen oder aufgrund ihrer modernen Erziehung den Glauben an die Volksreligion verloren.

Die leichte Zunahme der wahren Gläubigen erkläre sich daraus, daß rasche soziale Änderungen für sensible Leute steigende psychische Spannungen verursachen. Diese Leute finden in der Volksreligion den richtigen Weg mit dem schnell wechselnden Milieu fertig zu werden. So gesehen ist auch diese leichte Zunahme ein Resultat der Säkularisierung.

Der Buddhismus wurde im späten 16. Jahrhundert von chinesischen Anhängern nach Taiwan gebracht. Obwohl er großen Einfluß auf die Volksreligion hatte, war er selbst nie die Hauptreligion in Taiwan. Mit dem Ende der japanischen Besetzung (1945) erhielt der chinesische Mahayana Buddhismus durch viele Mönche aus dem chinesischen Festland und deren Anhängern neues Leben in der Republik China. Eine Chinesisch-Buddhistische Vereinigung entstand, die sich um Führungskräfte zur Wiederbelebung des Buddhismus bemüht. Obwohl diese Vereinigung Empfehlungen machen kann, hat sie die Entwicklung des Buddhismus wirkungsvoll beeinflußt.

Unter anderem hat sie ein formelles Ritual für die Ordination erstellt. Seit 1953 erhalten Novizen einmal im Jahr die wichtigsten buddhistischen Gebote in einem fast einmonatigen Ordinationsritus. Dabei werden den Mönchen 250 Gebote - und den Nonnen 348 Gebote auferlegt. Dieser Ordinationsritus ist eine für den chinesischen Buddhismus lebenswichtige Einrichtung und der Fortbestand der jährlich inselweit abgehaltenen Ordination legitimiert seinen Status und den seiner Mönche und Nonnen.

In der Geschichte Chinas hatten die Intellektuellen immer enge Beziehungen mit dem Buddhismus. Zahlreiche Gelehrte förderten seine akademische Entwicklung und manche von ihnen wurden berühmte Mönche. In den letzten zwanzig Jahren hat die buddhistische Studiengesellschaft in fast allen Hochschulen Fuß gefaßt und viele Studenten - und noch mehr Studentinnen - sind Buddhisten geworden. Auch in den achtziger Jahren zieht der Buddhismus immer mehr junge Leute an.

Mit der Parole "Buddhismus für die Welt" haben buddhistische Führer auch Leute außerhalb akademischer Kreise begeistert, die durch geistige und finanzielle Beiträge den Buddhismus unterstützen. Nach der oben erwähnten sozialen Untersuchung von 1984 sind ungefähr 15 % der erwachsenen Bevölkerung Buddhisten. Eine Million Menschen können somit als Buddhisten eingestuft werden. Der Buddhismus ist damit die beliebteste institutionalisierte Religion in der Republik China.

Vor 1945 gab es in Taiwan nur drei protestantische Konfessionen mit insgesamt etwa 6 000 Gläubigen. Als nach der Machtergreifung durch die Kommunisten auf dem Festland mehr als 60 protestantische Glaubensgemeinschaften nach Taiwan kamen, stieg die Zahl der Protestanten von 1950 bis 1964 von 70 000 auf 278 000 an.

Mit 1965 beginnt jedoch eine langsamere und zum Teil sogar negative Entwicklungsphase. Im Jahr 1979 betrug die Mitgliederzahl nur 360 000.

Die katholische Kirche hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich. Zwischen 1953 und 1963 ist die Zahl ihrer Gläubigen von 27 000 auf fast 300 000 angestiegen. Nach einer Periode der Stagnation folgte dann ein leichter Rückgang. Im Jahr 1986 betrug die Zahl der Katholiken in der Republik China 290 000.

Unter den Einwanderern aus dem chinesischen Festland waren die Katholiken nur eine kleine Minderheit, doch waren unter ihnen eine große Anzahl von Glaubensboten. Andere Immigranten hat das Trauma, den furchtbaren Krieg gegen die Kommunisten verloren zu haben dazu geführt, Trost in der Religion zu suchen.

Die beachtliche Zahl von Missionaren, die auf einmal auftauchten und mit großem Eifer Gemeinden gründeten, ließ die Zahl der Christen unter den Immigranten rasch wachsen. In dieser Zeit wurden auch zahlreiche Kirchen erbaut.

Der Abzug der Japaner eröffnete den Missionaren ein zusätzliches Wirkungsfeld. Bis dahin war es verboten gewesen, der Bergbevölkerung den christlichen Glauben zu predigen. Die Arbeit dort verhalf den christlichen Kirchen zu einem recht signifikanten Wachstum, und schließich wurde in den sechziger Jahren das Christentum der dominierende Glaube der Bergbewohner.

Säkularisierung ist zweifellos eine der Ursachen, die das rasche Wachstum der christlichen Kirchen in der Republik China verzögerten oder ganz zum Stillstand brachten. Das gilt vor allem für die großen Kirchen. Im Gegensatz dazu hatten kleinere Religionsgemeinschaften keine Mitgliederverluste. Durch Betonung fundamentalistischer Theologie, flexibler Verwaltung und finanzieller Selbsterhaltung haben diese Kirchen nicht nur überlebt, sondern sind stetig gewachsen.

In der heutigen Gesellschaft kann das rasche wirtschaftliche Wachstum, die moderne Erziehung und der Einfluß der Massenmedien soziale Faktoren erzeugen, die die Anziehungskraft der Kirchen mindern. Der Eifer der Kirchgänger wird leicht durch das Streben nach materialistischen Zielen gekühlt. Die christlichen Kirchen wissen das und heben hervor, daß der Prozeß der Säkularisierung schwer aufzuhalten ist.

Die Überalterung der Glaubensboten und der geringe Nachschub an jüngeren Kräften sind weitere Ursachen des Rückgangs. Man müßte also Laien heranbilden. Dazu meint Herr Allen Swanson, es sei wegen des Drucks auf das gegenwärtige Leben in Taiwan für Pastoren sehr schwer, Laien auf die hauptamtliche Evangelisierung vorzubereiten. Selbst für Hilfsbereite ist das oft unmöglich, weil das Lebenstempo hier zu schnell ist.

Auch die hohe Mobilität hat negative Einwirkungen auf die christlichen Kirchen Taiwans. Wenn Urbanisierung und Industrialisierung die ländliche Bevölkerung in die Städte locken, werden Kirchenmitglieder von ihren Geistlichen und Kirchengemeinden getrennt. Neuen Anschluß zu finden ist schwierig und schwachgläubige Christen verlassen dann die Kirche endgültig. Aufgrund geographischer Mobilität hat die katholische Kirche Taiwans zwischen 1969 und 1976 mehr als 33 000 Mitglieder verloren.

Schließlich gilt allgemein: Schneller sozialer Wandel ändert Wertmaßstäbe oder hebt sie auf. Alter Glaube wird dann leicht als Aberglaube hingestellt. David Jordan und Daniel Overmyer sind der Ansicht, daß es so nur allzu begreiflich ist, wenn manche Fromme in der Gründung neuer Religionen den geeigneten Weg sehen, religiöse und moralische Traditionen wieder aufleben zu lassen. So ist synkretistisches Sektierertum recht populär geworden. Darunter sollen aber nicht diffuse religiöse Gruppen, sondern neue, gut institutionalisierte Religionen verstanden werden. Von zwölf solcher Gruppen seien hier nur die drei größten angeführt.

Die Einheitssekte I Kuan Tao (一貫道) ist mit ihren mehr als 300 000 Anhängern die populärste Religion. Sie wurde erst im Jahr 1987 vor der Regierung zugelassen. Die Religion des Himmlischen Herrschers Tien Ti Chiao (天帝教) hat 10 000 Gläubige. Sie wurde vor zwei Jahren gegründet. Die drittgrößte Gruppe ist die Religion Konfuzianischer Ahnen Ju Tsung Sheng Chiao (儒宗神教), eine Bewegung, die den Konfuzianismus auf der Basis der chinesischen Volksreligion neu beleben will. In sogenannten Phönixhallen hoffen die Anhänger der Sekte Botschaften aus der Geisterwelt zu erhalten, die von einem Medium handschriftlich übermittelt werden.

Diese religiösen Bewegungen haben in den letzten Jahren wahrscheinlich mehr Anhänger gewonnen als alle anderen Religionen zusammen und sind so eine kraftvolle neue religiöse Macht in der Republik China geworden. - (Dr. CHIU Hei-yuan ist an der Akademika Sinica am Institut für Ethnologie als Forscher tätig)

(Deutsch von WANG Yue-che)

Meistgelesen

Aktuell